Trigger-Warnung: In diesem Eintrag geht es um Tod und Sterben. Auch wenn wir es generell wichtig finden kämpferisch nach vorne zu blicken, ist dies ein eher trauriger, wenn nicht verzweifelter Beitrag. Auch solche Emotionen und Perspektiven sind Teil des Pflegealltags im Krankenhaus und finden daher Platz in unserem Tagebuch.
Liebes Tagebuch,
es wird immer schlimmer: die Tage werden immer länger, die Kolleg*innen in Quarantäne immer mehr und die Corona-Patient*innenen sterben immer häufiger.
Ich bin nun den fünften Tag auf einer "normalen" Corona-Station, das heißt ohne intensivpflichtige Patient*innen, aber alle sind Covid-19 positiv und deshalb isoliert. Meine Station musste aufgrund der jüngsten Corona-Ausbrüche schließen. Du kannst dir kaum vorstellen, was hier los ist. Ich bin Kummer gewöhnt, aber den Patient*innen hier geht es meistens wirklich mies. Es gibt sehr viele ältere Menschen, manche werden tatsächlich wieder gesund, aber viele auch nicht. Täglich ziehe ich mehrere Pumpen mit Morphin auf. Das bekommen nur Patient*innen, denen wir nicht mehr helfen können außer ihre Schmerzen und Atemnot zu lindern. Und auch das gelingt nur zum Teil. Meine Kollegin, die hier schon länger arbeitet, erzählt mir, dass am Anfang nicht mal Besuch kommen durfte. Inzwischen ist es so, dass in bestimmten Ausnahmefällen Angehörige ins Krankenhaus gelassen werden. Trotzdem darf jeden Tag nur eine Person zu Besuch kommen und auch die Zeit ist begrenzt. Das ist bei einer meiner Patient*innen, die sechs Kinder hat, kaum zu ertragen. Ich hoffe, sie schafft es lange genug, damit sich jedes Kind von ihr verabschieden kann - jedes ihrer Kinder, das mit der Trauer am Bett der eigenen Mutter vollkommen alleine gelassen wird. Wir haben einfach nicht genug Zeit, sind nicht genug Pfleger*innen, um auch noch für die Angehörigen da zu sein. Seelsorger*innen dürfen nicht auch noch mit ins „Corona-Zimmer“ und sind in der momentanen Situation auch enorm ausgelastet. Und manche Patient*innen haben niemanden oder ihr Zustand verschlechtert sich so schnell, dass die Angehörigen es nicht mehr rechtzeitig schaffen ins Krankenhaus zu kommen um sich zu verabschieden. Dann müssen sie alleine sterben. Denn wir haben oft einfach nicht die Zeit dafür uns ans Bett zu setzen.
Wenn eine meiner Patient*innen verstorben ist, muss ich sie oder ihn in einen Sack stecken. Keine Zeit zum Durchatmen, keine Zeit für eine letzte Versorgung, keine Zeit für Rituale. Kein Abschied nehmen durch die Angehörigen mehr möglich. Der Sack wird zu gemacht, und das war´s.
Ich habe im Laufe meines Lebens schon viele Leute in den Tod begleitet, oft war es traurig, meistens auch viel zu früh, aber das hier ist einfach nur grausam… So sehr ist es mir noch nie an die Nieren gegangen, ich weiß nicht, wie lange ich das alles noch aushalte.
Deine Agnes
Der Umgang mit Sterben ist auch Gegenstand einer aktuellen Reportage von Panorama 3 im NDR, die sich vorrangig mit der Situation auf den Intensivstationen auseinandersetzt.
Agnes ist Pflegerin in einem Hamburger Krankenhaus. Sie wurde von uns als Kunstfigur erschaffen, um die Erlebnisse vieler Kolleg*innen während der Corona-Pandemie anonym darzustellen. In den folgenden Wochen werden wir in weiteren Einträgen die Erfahrungen aus dem Pflege-Alltag im Krankenhaus sichtbar machen. Das Erzählte wurde so von Pfleger*innen erlebt und fasst zum Teil mehrere Erzählungen zusammen. Alle Namen in den Geschichten wurden von uns geändert. Hast Du auch etwas erlebt, was dringend mal in unserem Tagebuch Gehör finden muss? Dann schreib uns eine Mail an info(at)pflegenotstand-hamburg.de!