Corona-Tagebuch, Tag 2: Pandemie & Stellenplan

Hallo liebes Tagebuch,

in unserem Krankenhaus gibt es inzwischen wieder einige Corona-Patient*innen. Ein paar von ihnen liegen auch auf der Intensivstation. Immer öfter stirbt auch hier jemand an Covid-19.

 

Heute morgen stand ich in der Schlange des Ausgabepunktes für unsere Schutzmaterialien. Masken, Handschuhe, Desinfektion... alles streng rationiert. Immerhin haben wir im Moment genug davon, das war ja auch schon mal anders. Wie auch immer, auf jeden Fall bin ich in der Schlange mit zwei Kolleg*innen von der Intensivstation ins Gespräch gekommen. Sie wirkten besorgt - wie werden die nächsten Monate wohl aussehen? Das Personal ist knapp, und wenn mal wieder jemand in Quarantäne muss, gibt es keinen Ersatz.

 

„...und dann wollen sie Ullas Vertrag nicht verlängern, das macht mir am meisten Angst, die Realität scheint da oben noch nicht angekommen zu sein!“ Ulla ist Intensivpflegerin, die beiden Kolleg*innen schätzen sie sehr, sie hat viel Erfahrung und macht ihre Arbeit gut, aber da sie nur zur Elternzeitvertretung da war, muss sie jetzt wohl wieder gehen. Obwohl sie gerne bleiben würde. Der Stellenplan sieht sie nicht vor. Die Zahlen müssen stimmen. Ich bin wütend und entsetzt, die Ohnmacht, die ich spüre, ist kaum in Worte zu fassen. Wir haben zwar einige Beatmungsgeräte, aber eigentlich nicht genug Kolleg*innen, um sie alle zu bedienen, und bald haben wir wohl noch eine weniger...

 

Deine Agnes

 

Was Agnes vor einigen Tagen in ihrer Klinik in Hamburg mitbekommen hat, dass in der aktuellen Situation selbst einer Intensivpflegerin die Stelle nicht verlängert wird, mag die Ausnahme sein. Es verweist aber auf ein größeres Problem: Der Personalmangel in der Pflege ist hausgemacht ... Obwohl Kliniken immer wieder betonen, dass es einfach nicht mehr Pflegepersonal gibt, geht es am Ende doch um Zahlen und Gewinne und nicht um eine bedarfsgerechte Versorgung. Zwar gibt es in Deutschland ca. 28.000 Intensivbetten, aber nur rund 25.000 vollausgebildete Intensivpflegekräfte - und nicht nur auf den Intensivstationen fehlt Personal. Vollends absurd (und unmenschlich) wird es, wenn Pfleger*innen in dieser Situation sogar abgeschoben werden sollen, was insbesondere in Altenheimen immer wieder mal vorkommt, zuletzt vor wenigen Tagen in Hannover (ähnliche Fälle gab es in den letzten Monaten u.a. in Dresden, Fürth und Günzburg).

 

Der Personalmangel in der Pflege ist Ergebnis einer zielgerichteten Ökonomisierung der deutschen Krankenhäuser: Mit Einführung der Finanzierung über Fallpauschalen (DRGs) und der Ausrichtung von Kliniken auf Profitmaximierung infolge von Privatisierungen wurde Pflegepersonal zum "Kostenfaktor". In der Logik der Klinikbetreiber war es vernünftig, am Personal zu sparen und stattdessen weniger Beschäftigten mehr Arbeit aufzubürden - nur so konnten die Gewinne gesteigert werden.

 

Wir sollten die aktuelle Pandemie-Situation deshalb zum Anlass nehmen, das Finanzierungssystem und die Organisationsweise unserer Krankenhäuser grundlegend in Frage zu stellen - denn: Krankenhäuser sind zentrale Elemente öffentlicher Daseinsvorsorge, keine Fabriken! Und: Mehr von uns ist besser für alle! Wir fordern die Abschaffung der Fallpauschalen und ein Gewinnverbot im Krankenhaus! 

 

Agnes ist Pflegerin in einem Hamburger Krankenhaus. Sie wurde von uns als Kunstfigur erschaffen, um die Erlebnisse vieler Kolleg*innen während der Corona-Pandemie anonym darzustellen. In den folgenden Wochen werden wir in weiteren Einträgen die Erfahrungen aus dem Pflege-Alltag im Krankenhaus sichtbar machen. Das Erzählte wurde so von Pfleger*innen erlebt und fasst zum Teil mehrere Erzählungen zusammen. Alle Namen in den Geschichten wurden von uns geändert. Hast Du auch etwas erlebt, was dringend mal in unserem Tagebuch Gehör finden muss? Dann schreib uns eine Mail an info (at) pflegenotstand-hamburg.de

  • Ängry Nurse2_breit