Corona-Tagebuch, Tag 14: Per Mail zum Sündenbock

Liebes Tagebuch,

 

es ist unglaublich! Meine Stationsleitung hat mir heute eine E-Mail gezeigt, die wohl alle Leitungen bekommen haben. Der Anlass der Rundmail sind die massiven Ausbrüche und die Schließung von drei ganzen Stationen in den letzten Wochen.

 

Darin steht doch allen Ernstes, dass nicht auszuschließen sei, dass die Infektionen von den Mitarbeiter*innen eingeschleppt worden seien, weil ja mehr Mitarbeiter*innen als Patient*innen erkrankt seien. Weiter wird die „desaströse wirtschaftliche Lage“ beschrieben, in die das Klinikum durch die Ausbruchsgeschehen und Stationsschließungen geraten sei und angemahnt, dass der Versorgungsauftrag gefährdet sei. Abschließend verkündet die Pflegedirektion neue verschärfte Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen, wie z.B. dass sich nur noch zwei Leute gleichzeitig im Dienstzimmer zur Übergabe aufhalten dürfen.

 

Ich musste es zwei Mal lesen, weil ich nicht fassen konnte, wie der Text formuliert ist.

 

Ein ganz klarer Vorwurf an die Mitarbeiter*innen, Schuld an den Ausbrüchen zu sein, der einzige Fokus auf die wirtschaftliche Situation. Weder ein einziges Wort des Bedauerns, dass sich so viele Mitarbeiter*innen infiziert haben, noch ein Genesungswunsch an die Erkrankten! Krasse Kälte in dieser Mail!!

 

Und das ausgerechnet in einem Klinikum, dass lange Zeit ausschließlich diese nicht-zertifizierten Staubmasken, von denen ich schon in meinem dritten Eintrag berichtet hatte, zum Einsatz in allen Bereichen ausgegeben hat. Den Dingern fehlt nicht nur das CE-Siegel, sie sitzen auch richtig schlecht im Gesicht und schließen nicht richtig an den Rändern ab. Die Bänder sind hinter den Ohren so knapp, dass man aussieht wie Mr. Spock aus Raumschiff Enterprise!

 

Da könnte man genauso sagen, dass da ein Zusammenhang zu den vielen Infektionen besteht und der Arbeitgeber einfach seine Fürsorgepflicht ignoriert hat und Schuld an den Erkrankungen der Mitarbeiter*innen ist!

 

Auch sollte nochmal erwähnt werden, dass die Patient*innen selbst zwar keinen Besuch in der Klinik empfangen dürfen (Besuchsverbot). Aber viele treffen sich draußen vor dem Eingang mit ihren Angehörigen und Freunden oder manchmal sehe ich auch Patient*innen mit fünf Leuten in einem Auto sitzen, wenn es draußen regnet und kalt ist. Das ist mindestens genauso wahrscheinlich, dass so Infektionen entstehen, die dann zu Ausbruchsgeschehen führen...

 

Aber zurück zum Thema: Die Mail ist einfach nur eine Unverschämtheit und Respektlosigkeit, die das beschreibt, wie wir uns vom Arbeitgeber behandelt fühlen!

 

deine Agnes

 

 

Agnes ist Pflegerin in einem Hamburger Krankenhaus. Sie wurde von uns als Kunstfigur erschaffen, um die Erlebnisse vieler Kolleg*innen während der Corona-Pandemie anonym darzustellen. In den folgenden Wochen werden wir in weiteren Einträgen die Erfahrungen aus dem Pflege-Alltag im Krankenhaus sichtbar machen. Das Erzählte wurde so von Pfleger*innen erlebt und fasst zum Teil mehrere Erzählungen zusammen. Alle Namen in den Geschichten wurden von uns geändert. Hast Du auch etwas erlebt, was dringend mal in unserem Tagebuch Gehör finden muss? Dann schreib uns eine Mail an info(at)pflegenotstand-hamburg.de!

  • Ängry-Nurse_Folge-14