Liebes Tagebuch,
"Impferschleichen" scheint der neuste Trend zu sein. Fast täglich gibt es neue Fälle von Führungsriegen und Kommunalpolitiker*innen, die sich impfen lassen. Da scheint es dich wahrscheinlich nicht zu wundern, wenn ich dir jetzt erzähle, dass es bei uns im Krankenhaus nicht anders ist. Erst lief alles ganz gut an, viele Pfleger*innen wurden geimpft, zuerst die Corona- und Intensivstationen. Doch dann gab es Lieferengpässe... Impftermine wurden abgesagt, die anderen Fachbereiche mussten warten und weißt du, wer nicht warten musste? Die Pflegedirektion. Als ich das zweite mal geimpft wurde und mit den Kolleg*innen sprach, die für die Impfungen zuständig sind, bin ich fast hinten 'rüber gefallen, als sie mir erzählten, dass unsere Chefs, die sich nicht mal auf Station blicken lassen, schon geimpft wurden. Es ist einfach nicht zu fassen, wie Macht selbst in so einer ernsten Lage noch ausgenutzt wird...
Und das alles, nachdem wir uns wochenlang Vorwürfe anhören müssten, dass die Impfbereitschaft von uns Pfleger*innen nicht hoch genug sei. Dass man uns zwingen sollte, uns impfen zu lassen und andernfalls Berufsverbote aussprechen sollte. Nach all diesen haltlosen Vorwürfen stehen wir immer noch geduldig in der Warteschlange, während Kommunalpolitiker*innen und Führungskräfte sich impfen lassen.
Wenn das so weiter geht, sollte man statt über ein Berufsverbot lieber über einen Streik nachdenken. Jede Pfleger*in, der noch kein Impfstoff zur Verfügung gestellt wurde, sollte zuhause bleiben, bis ihr ein Angebot zur Impfung gemacht werden kann. Vielleicht verstehen die Verantwortlichen dann endlich, dass sie wichtigen Personen die Impfdosen stehlen durch ihr egoistisches, verantwortungsloses Verhalten.
deine Agnes
Als Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus fordern wir: Krankenhäuser müssen als öffentliche Einrichtungen fungieren und demokratisch organisiert werden. Diese Geschichte zeigt, wie gefährlich die krassen Hierarchien in den Kliniken sind. Beschäftigte müssen Mitspracherechte erhalten, Krankenhäuser demokratisch organisiert sein! Pfleger*innen rein in die Krisenstäbe!
Agnes ist Pflegerin in einem Hamburger Krankenhaus. Sie wurde von uns als Kunstfigur erschaffen, um die Erlebnisse vieler Kolleg*innen während der Corona-Pandemie anonym darzustellen. In den folgenden Wochen werden wir in weiteren Einträgen die Erfahrungen aus dem Pflege-Alltag im Krankenhaus sichtbar machen. Das Erzählte wurde so von Pfleger*innen erlebt und fasst zum Teil mehrere Erzählungen zusammen. Alle Namen in den Geschichten wurden von uns geändert. Hast Du auch etwas erlebt, was dringend mal in unserem Tagebuch Gehör finden muss? Dann schreib uns eine Mail an info(at)pflegenotstand-hamburg.de!